Irrer Alm

Das Märchen ist einfach, klar und durchsichtig und ein Labsal wie die Luft!

Adalbert Stifter,
1805 – 1868,
(ober)österreichischer Dichter

Des Freunds Geheimnis möge niemand lichten.
Du höre auf den Inhalt der Geschichten!
In Sagen, Märchen aus vergang‘nen Tagen
läßt sich des Freunds Geheimnis besser sagen!

Maulana Dschelaleddin Rumi,
1207 – 1273,
persischer Mystiker,
über das Göttliche

Vor langer, langer Zeit, war’s gestern oder war es heut’…

Gedanken über Märchen

Es gibt viele gute Gründe sich für Märchen zu begeistern. Sei es, dass sie das Kind in uns wecken, sei es, dass sie meist ausgesprochen witzig, unterhaltsam und fantasievoll sind.
Das Erstaunliche ist:

Diese Erzählungen sind uralt. Und trotzdem haben sie auch heute noch etwas zu sagen.

Das liegt zum guten Teil wohl in ihrer schlichten, aber eindringlichen Weisheit. Sie erzählen uns von markanten Abschnitten aus dem Leben ihrer Heldinnen und Helden. Seien sie einfältig wie ein „Ofenhocker“, reich und schön wie eine Prinzessin, arm und unattraktiv wie ein Sauhirt oder unschuldig wie das „Rothüterl“. Mit all diesen archetypischen Gestalten können wir uns auf die eine oder andere Art und Weise identifizieren.

Es ist ein Vergnügen mit Märchen in Gedanken verschiedene Lebenswege durchzuspielen.

Da will Altes neu belebt werden: Die Söhne machen sich auf um für den Vater das Wasser des Lebens zu holen. Andere wieder werden mit harten Wirklichkeiten konfrontiert – siehe das Tiroler Zaubermärchen „Vom Zistl im Körbl“, „Die siebenschöne Juliska“ aus Ungarn oder das so bekannte „Hänsel und Gretel“. Wieder andere stellen die Sinnfrage, wie in der Geschichte „Von Einem, der auszog um mit seinem Schicksal zu reden“. Die einen machen sich aus freien Stücken auf, die Anderen tun dies aus Not. Oft werden sie gar mit aller Gewalt dazu gedrängt.

Alle Heldinnen und Helden aber ziehen aus um ihr Glück zu finden. Was sonst ist unser Leben?

Dabei sind die Märchenheldinnen und -helden keine Grübler und Sinnierer. Ihre Gedanken und Überlegungen werden uns so gut wie nie mitgeteilt. Nein, ihr Wesen drückt sich vielmehr in ihren Handlungen aus. Und in all dem, was sie für sich wählen, entscheiden und tun, sei es dumm oder weise, einfältig oder voller Raffinesse, erkennen wir uns wieder.

Ohne zu belehren, halten sie uns einen inneren Spiegel vor. Ganz wichtig ist dabei, dass das Märchen Lösungen aufzeigt. Herausforderungen werden bewältigt, Widrigkeiten überwunden, Reifeprozesse finden statt.

Immerhin sind alle diese Überlieferungen schon hunderte von Jahren alt. Von Generation zu Generation wurden sie weiter erzählt. So sind sie immer und immer wieder von Mund zu Ohr, von Kopf zu Herz gegangen. Nicht eine oder einer allein hat diese Erzählungen formuliert. Viele haben daran mitgewirkt. Und so verdichtet sich in ihnen die Lebensweisheit von Generationen in klaren Bildern. Vielleicht wird auch deshalb die Wahrheit, die hinter der Einfachheit der Volksmärchen steckt, schnell spürbar.

Wer genau hinhört, dem erzählt es von seinen/ihren eigenen Ängsten und versteckten Lebenslügen. Es führt Irrwege vor Augen, bestärkt aber auch bei Entschlüssen. Vor allem weist das Märchen immer wieder auf schlummernde Fähigkeiten und die Vielfalt an Möglichkeiten für das eigene Leben hin. Der Sauhirt kann immer noch König werden, der Ofenhocker ein Held, das Aschenputtel eine Königin. Das ist die Botschaft zwischen den Worten.

Nicht um romantisch-nostalgische G’schichtln geht es bei den Märchen, sondern um mentale Werkzeuge zur Selbstbestimmung und Persönlichkeitsentwicklung. Wer kann die nicht gut brauchen?

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